Musik und Kultur in Theresienstadt
Vortrag in der Hochschule für Musik am 11. Februar 2023

von Gudrun Mitschke-Buchholz

 

„Gideon Klein ist zweifellos ein sehr bedeutendes Talent. Sein Stil ist der kühle, sachliche der neuen Jugend; man darf sich über diese merkwürdig frühe, stilistische Abklärung wundern. […] Unsere Jugend hat starke, intelligente Gehirne; hoffentlich vermag sie auch das Herz in den Kopf zu heben.“

„Assyrische Frühgeschichte, Die Blinden und ihre Umwelt, Chemie der Nahrungsmittel, Hundert Probleme der Technik des Alltags, Konjunktur und Wirtschaftskrise, Beruf und Ethik“ oder auch „Bilanz und Steuer“ bieten nur einen Ausschnitt aus den rund 500 hochkarätigen Vortragsveranstaltungen, die – so möchte man meinen – dem Angebot der Akademie der Wissenschaften entstammen. Weit gefehlt. Das Kaleidoskop kultureller Veranstaltungen lässt sich in beeindruckender und vielschichtiger Weise erweitern: Durch Musik mit Oper, Kammermusik, Chor- und Orchesterwerke und Swing, bildende Künste, Theater, Kabarett, eine große Bibliothek, Schriftsteller, Maler und viele Künstler von hohem Rang. Welchen Kosmos betreten wir? Die eingangs erwähnte Vortragsreihe wurde durch den sog. Orientierungsverein organisiert. Die durch Idealismus und wahrscheinlich auch durch Verzweiflung befähigten Mitglieder dieser Gruppierung hatten es sich zur Aufgabe gemacht, verirrte und verwirrte Menschen, die desorientiert auf den Straßen aufgefunden wurden, zu betreuen und ihnen so etwas wie die Gewissheit einer Seite des Menschseins unter die Füße auf dem sich auflösenden Boden zu bringen – als Gegenwelt ihrer alltäglich erlebten Realität, die Theresienstadt hieß.

Von Viktor Ullmann, einer der bekanntesten Komponisten, die in Theresienstadt inhaftiert waren, stammt die eingangs zitierte Passage aus seinen 26 erhaltenen Musikkritiken. Sie geben kostbare Einblicke in die kulturelle Szene des Ghettos. Die Darbietungen vieler Art spielten eine überaus wichtige Rolle in dieser Lebenswelt – sie waren eine Form der Bewältigung des Grauens mit künstlerischen Mitteln bis hin zu einem satirischen Blatt, das im Ghetto erschien. Kultur entstand und entfaltete sich unter den denkbar schlechtesten Bedingungen des Zwangsaufenthalts, des Verlustes, des Hungers, der Gewalt und der Verelendung. Sie wurde zum Ausdruck von Trost, Selbstvergewisserung, Illusion und Widerstand gleichermaßen. Für das Nebeneinander von Hochkultur und Hunger, Verzweiflung und Tod fand Viktor Ullmann in seinem Aufsatz „Goethe und Ghetto“ einen mehr als beredten Ausdruck.

Theresienstadt als Vorzeige- oder als Künstlerghetto entzieht sich nicht nur einer eindeutigen Zuordnung in das NS-Haftstättensystem. Theresienstadt wurde auch zu einem Mythos, zu einer Legende. Verklärt durch die Vorstellung, hier sei ein bevorzugter Ort nicht nur für deutsche Juden gewesen, für Prominente, Künstler und Wissenschaftler. Der Historiker Wolfang Benz bezeichnete dieses Ghetto, das keines im eindeutigen Sinne war, als „in seiner Einzigartigkeit exemplarischen Ort europäischer Geschichte“.

Dieser „einzigartige“ Ort war aus einer barocken Idealstadt europäischer Festungsbaukunst entstanden. Die sogenannte Kleine Festung, die Teil dieser Anlage war, wurde in der Habsburger Monarchie als Gefängnis für militärische und politische Gefangene genutzt. Im Juni 1940 wurde hier ein Polizeigefängnis der Prager Gestapo eingerichtet. Das „Gestapohaftlager“ bzw. „Polizeigefängnis“ diente fortan als Stätte der Verfolgung, der Folter und entfesselter Gewalt, die viele nicht überlebten. Die Gefangenen passierten am Eingang zum Hof der Kleinen Festung die Inschrift „Arbeit macht frei“.

Ende November 1941 wurde die Stadt in ein Ghetto in der „Großen Festung“ für insgesamt 150.000 Juden aus dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ umgewandelt. Zu Theresienstadt gehörten zudem neun Außenlager, sog. Außenkommandos. In der Folgezeit wurde Theresienstadt als Konzentrations- und Durchgangslager für Juden auch aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Dänemark und der Slowakei genutzt. Für die Deportation nach Theresienstadt genügte ein einziger Grund, und zwar der, jüdisch zu sein.

In Theresienstadt wurden ab November 1941 die Deportierten unter primitivsten Bedingungen in den Kasernen untergebracht. Ähnlich wie in anderen Ghettos und Konzentrationslagern wurde auch in Theresienstadt eine jüdische „Selbstverwaltung“ errichtet, die die Befehle der SS ausführen musste und kaum über Möglichkeiten verfügte, das Leben der Häftlinge zu erleichtern. Die Hoffnung der Häftlinge, dass Theresienstadt der Ort wäre, an dem sie bis zum Ende des Krieges würden leben und arbeiten können, ging schnell in die Brüche.

Theresienstadt war eine Station der „Endlösung der Judenfrage“ der nach der Wannseekonferenz 1942 in Gang gesetzten Tötungsmaschinerie. Und Theresienstadt hatte zudem die Funktion, die Welt über die Absichten der Nationalsozialisten zu täuschen. Nach innen und nach außen. Weder für die Weltöffentlichkeit noch für die Inhaftierten sogleich erkennbar funktionierte Theresienstadt als Durchgangsstation zu den Vernichtungslagern im Osten: Nach Auschwitz-Birkenau ging die Hälfte der 63 Transporte, die aus Theresienstadt abfuhren. So erhielt das vermeintliche Vorzeigeghetto den Beinamen „Wartehalle für Auschwitz“. Theresienstadt wurde in der NS-Propaganda zu weiteren Täuschungszwecken als sogenanntes „jüdisches Siedlungsgebiet“, Alters- und Vorzugsghetto für Juden über 65 Jahre und für diejenigen mit Kriegsauszeichnungen auf zynische Weise verklärt und als angebliche „jüdische Mustersiedlung“ ausländischen Delegationen vorgeführt. Den Menschen wurden sogenannte Heimeinkaufsverträge angeboten, in denen ihnen bis zu ihrem Lebensende angemessene kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und ärztliche Versorgung zugesichert wurden. Als die Getäuschten und Betrogenen die Wirklichkeit des Lagers nach und nach erkannten, waren sie ihres Vermögens, ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens an das Menschsein beraubt. Die harte Realität des Ghettos traf insbesondere die hochbetagten Menschen. Viele von ihnen überstanden Hunger, Seuchen, Wassermangel und die Leiden des Lagerlebens nicht lange. Für eine Person gab es durchschnittlich 1,4 m² Wohnfläche. Allein in der sogenannte Sudetenkaserne wurde eine größere Zahl Häftlinge untergebracht als die Stadt vor dem Krieg Einwohner hatte.

Wie gingen die Menschen mit dem perfiden Betrug, der Täuschung und dem Verlust all dessen, was sie bis dahin zu sein glaubten, um? Zu welchen Reaktionen waren die, manche Ghettobewohner in der Lage, in einer Welt, die eine Katastrophe war? Theresienstadt erzählt etwas von Überlebensstrategien, über die Kraft von Kunst und Kultur, über Selbstvergewisserung und persönliche, soziale und religiöse Identität – in einem Kosmos, in dem kaum mehr etwas Gültigkeit hatte, in dem Gewalt, Entwürdigung und Demütigung regierten. Es erzählt etwas über die Auflehnung gegen das Diktum, Juden seien Untermenschen, und damit zu wirklicher Kultur unfähig. Als die Machthaber die hohen künstlerischen Begabungen der Inhaftierten zu propagandistischen Zwecken missbrauchten, widerlegten sie damit ihre eigenen rassistischen Grundsätze.

Das kulturelle Leben in Theresienstadt wurde keineswegs von Anfang an durch die nationalsozialistischen Herren des Ghettos geduldet oder gar gefördert. Es entwickelte sich zunächst vielmehr aus dem privaten Bedürfnis und gegen die Absichten der Machthaber. So fanden sog. Kameradschaftsabende der Aufbaukommandos statt, bei denen zu Akkordeon gesungen wurde oder Abende, in denen im engsten Kreis mit den wenigen Instrumenten, die verblieben waren, musiziert wurde. Die SS gestattete nach einem anfänglichen Verbot offiziell den Besitz von Musikinstrumenten. Sie hatten offenbar den Gebrauchswert von Musik im Lagerleben im Sinn und wussten durch den Missbrauch der hochrangigen Kulturschaffenden die Weltöffentlichkeit systematisch zu täuschen. Dies unterscheidet sich zum Beispiel vom Mädchenorchester in Auschwitz insofern, als die Musik dort nicht zur Täuschung der Weltöffentlichkeit genutzt wurde, sondern vielmehr zur sadistischen Untermalung der Verbrechen.

Unter diesen unvorstellbaren Bedingungen wurden in Theresienstadt Kammermusik von Brahms, Beethoven, Mozart, Dvorák und Schubert und auch sinfonische Werke durch professionelle Kräfte und Laien zur Aufführung gebracht. Auch neue Musik entstand durch die inhaftierten Komponisten und brachte die ungeahnte Realität zu Gehör. Geprobt wurde nach schwerer Arbeit in kalten Kellern, krank, mit Hunger, zum Teil schlechten Instrumenten und ohne ausreichendes Notenmaterial – und angesichts des allgegenwärtigen Todes. Und dennoch oder gerade deswegen waren diese Proben und Konzerte für die Beteiligten eine lebenserhaltende Oase.

1942 konnte das erste Orchesterkonzert – die von Carlo Taube komponierte „Theresienstädter Sinfonie“ in der Magdeburger Kaserne stattfinden. Das Finale dieser Sinfonie erfasste die Hörenden zutiefst: Die ersten vier Takte von „Deutschland, Deutschland über alles“ wurden immer und immer wieder wiederholt, steigerte sich bis ein letzter Aufschrei „Deutschland, Deutschland“ sich nicht mehr bis „über alles“ fortsetzte, sondern in einer grauenvollen Dissonanz erstarb. Die Zuhörer wussten, wovon dieses Stück erzählte. Es vertonte ihre Lebensrealität und es zeigte, zu welchem Widerstand Menschen in der Lage sind. Menschen, deren physische Vernichtung beschlossen war.

In ständiger Erwartung des Todes brauchte es eine enorme seelische Kraft, um nicht seine Würde zu verlieren und zu schreiben, zu singen, zu rezitieren, zu malen. Die Musik hat wesentlich und wohl vor allen anderen Künsten dazu beigetragen, dass es in Theresienstadt ein Leben in Würde gab. Insofern steht die Musik im Mittelpunkt auch meiner Ausführungen über das kulturelle Leben im Ghetto. Dies heisst nicht, dass andere Künstler, wie Maler und Zeichner und damit die Chronisten des Lagers, von denen manche ihr Tun mit dem Leben bezahlten, nicht in meiner Achtung stehen würden. Genauso wenig die Kinder, deren Zeichnungen den Betrachter mit voller emotionaler Wucht treffen.

Den Grundstein des reichen Musiklebens in Th hatten die böhmischen Juden gelegt. Mit Viktor Ullmann, Pavel Haas, Hans Krása und Gideon Klein wurden ab 1941 die begabtesten tschechischen Komponisten nach Theresienstadt verschleppt. Sie waren Schüler von Schönberg, Zemlinsky und Janácek, sie hatten Erfolge gefeiert und als Pianisten und Dirigenten gewirkt, bis sie 1939 mit Arbeits- und Aufführungsverbot belegt und schließlich deportiert worden waren.

Es entfaltete sich durch die jüdischen Künstler ein reiches kulturelles Leben: Es gab mehrere Chöre, Kabarettgruppen, klassische und Unterhaltungsorchester (von manchen Kollegen der „ernsten“ Musik naserümpfend beargwöhnt), es gab die eingangs erwähnten Musikkritiken, Musikunterricht wurde erteilt und ein von Ullmann geleitetes „Studio für neue Musik“ eingerichtet. Deren wichtigsten Vertreter war Ullmann selbst, Hans Krása, Pavel Haas und auch Gideon Klein, die in unter den extremen Bedingungen des Ghettolebens komponierten und ihre Werke zur Aufführung brachten. In Theresienstadt waren Komponisten und Künstler aber auch sehr begabte Laien zahlreich vertreten, die versuchten, ihre Identität durch die Fortführung ihrer Tätigkeiten zu retten, anderen Häftlingen eine Stütze zu sein und das Menschsein nicht vergessen zu lassen.

Die von der SS seit der Gründung des Ghettos eingesetzte Selbstverwaltung hatte sich aller Belange des täglichen Lebens anzunehmen. Noch 1942 wurde vom Ältestenrat die offiziell genehmigte Abteilung „Freizeitgestaltung“ eingeführt. Die Mehrzahl der kulturellen Aktivitäten wurde von haupt- und nebenamtlich beschäftigten Gefangenen koordiniert. Neben Theater, Vortragswesen, Zentralbücherei und Sport umfasste sie eine sog. Musiksektion. Diese war unterteilt in die Sparten Opern- und Vokalmusik, Instrumentalmusik, Kaffeehausmusik und Instrumentenverwaltung. Sie schuf den organisatorischen Rahmen des geduldeten beziehungsweise erlaubten Musiklebens. Auch diese Institution musste auf jeden Wink der SS verfügbar sein.

Mitarbeiter der sogenannten Freizeitgestaltung, unter ihnen Viktor Ullmann, erhielten Vergünstigungen wie eine bessere Unterkunft, zusätzliche Lebensmittel und die Befreiung von Arbeitseinsätzen – zumindest bis zu ihrer eigenen Deportation. Für propagandistisch inszenierte und gefilmte Konzerte bekamen die Künstler eigens Konzertkleidung – weißes Hemd und Frack. Die Sicht auf ihre kaputten, eigentlich unbrauchbaren Schuhe wurde durch Blumendekorationen verdeckt.

In Theresienstadt waren somit Werke aus dem gängigen Konzert- und Opernrepertoire genauso zu hören wie neu komponierte Werke: Orchester- und Kammermusik kamen zur Aufführung, ebenso Oratorien, Lieder und auch Opern wie „Carmen“ und „Tosca“ oder Smetanas bei den Ghettobewohnern äußerst beliebte „Verkaufte Braut“ oder auch Operetten wie „Die Fledermaus“: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“. Nicht nur die Operettenliebhaber unter Ihnen kennen diese Zeilen, die in dieser Welt eine ganz besondere Klangfarbe erhalten.

In dem ab Dezember 1942 eröffneten Kaffeehaus konnten die Ghettobewohner, die einen Berechtigungsschein ergattert hatten, Unterhaltungsmusik und Swing hören, was nicht durchgängig aber eigentlich auf dem Index stand. Der Swing-Gitarrist Coco Schumann, der als Neunzehnjähriger nach Theresienstadt kam, traf mit den „Ghetto Swingers“ auf ein herausragendes Jazz-Ensemble.

Das Kulturleben, das in schärfstem Gegensatz zu den täglichen Versuchen zu überleben stand, war propagandistisch gewünscht. Im Frühling 1943 begann eine „Stadtverschönerung“, deren Präsentation die Weltöffentlichkeit über den wahren Zweck des Ghetto belügen sollte. Bereits im Herbst 1942 waren „Geschäfte“ eröffnet worden, in denen allerding der bei Einlieferung beschlagnahmte Besitz der Häftlinge für wertloses Geld angeboten wurden. Das Kaffeehaus wurde errichtet; ein eigens errichteter Kindergarten existierten für genau den einen Tag, an dem die Besuchskommission erwartet wurde. Das mit großem Aufwand betriebene Täuschungsmanöver gelang auch vor der Kommission des Internationalen Roten Kreuzes im Sommer 1944, der ein Potemkinschen Dorf vorgeführt wurde. Ein idyllischer, frisch geputzter, mit Blumen geschmückter Ort, in dem Kulturveranstaltungen stattfanden, wo die noch vorzeigbaren Bewohner Theater oder Fußball spielten, wo Krásas Kinderoper Brundibar oder Verdis Requiem unter Rafael Schächter aufgeführt wurden und in dem Jazz zu hören war.

Dass die „Verschönerung“ eine Senkung des Häftlingsstandes verlangte, war Voraussetzung dieser zynischen Inszenierung. Vor allem kranke, elende Menschen, die der internationalen Kommission nicht vorgeführt werden konnten, ohne Verdacht zu erregen, wurden nach Auschwitz deportiert. Dies traf im Dezember 1943 5.000 Menschen, im Mai 1944 nochmals 7500.

Der Betrug funktionierte über die Maßen. Die Internationale Kommission des Roten Kreuzes bezeichnete Theresienstadt als „eine Stadt wie jede andere“, ein „Endlager“, von wo aus keine weiteren Deportationen stattfanden. Das wohl bekannteste Beispiel der Propagandalüge war ein "Dokumentarfilm" der in den frisch verschönerten Kulissen mit zwangsweise verpflichteten Häftlingen gedreht wurde, unter der Leitung des ehemaligen UFA-Stars Kurt Gerron. Unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ erlangte der Film eine entsetzliche Berühmtheit. Noch vor der Fertigstellung des Films begannen die Deportationen, die 18.500 Menschen trafen. Auch Kurt Gerron und seine Frau Olga bestiegen am 28. Oktober 1944 den Zug nach Auschwitz.

Die bedeutendsten Theresienstädter Musiker, Komponisten und Dirigenten, unter ihnen wiederum Viktor Ullmann, Hans Krása, Pavel Haas, Gideon Klein, Rafael Schächter und Karel Ancerl – sie alle wurden am gleichen Tag, dem 16. Oktober 1944, in einem Transport von 1.500 Menschen nach Auschwitz deportiert. 128 von ihnen überlebten.

Gideon Klein, dessen Streichtrio wir heute Abend hören werden, wurde von Auschwitz in das Außenlager Fürstengrube gebracht. Am 19. Januar 1945 begann wegen der nahenden Roten Armee die Evakuierung des Lagers. Über den Tod von Gideon Klein finden sich keine Dokumente. Wir wissen nicht, ob er zu den 250 Menschen gehörte, die sofort erschossen wurden, oder ob er noch auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben wurde, um im offenen Bahnwaggon bei minus 20° über Mauthausen nach Mittelbau-Dora transportiert zu werden. Und wir wissen auch nicht, ob er zu den Geschundenen gehörte, die diesen Transport nicht überlebten und dessen Leichen entlang der Bahnschienen gefunden wurden.

Nach der Deportation der führenden Künstler verstummte Theresienstadt keineswegs. Es erfolgte wiederum zu politisch-propagandistischen Zwecken der erneute Aufbau eines Kulturlebens, zum einen durch die verbliebenen Insassen, zum anderen durch neu ankommende Häftlinge. Die Fluktuation war durch die Transporte entsprechend. Auch die Neuankömmlinge spielten um ihr Leben und versuchten, sich auf diese Weise eine Gegenwelt zu erschaffen. Auch sie spielten fatalerweise dadurch eine entscheidende Rolle als Propagandainstrument – missbraucht als Werkzeug ihrer Unterdrücker.

Dennoch: Durch Auftritte in Alters- und Sterbeheimen, durch die Betreuung neu ankommender Künstler, durch ihre Wahrnehmung erzieherischer, bildungspolitischer und psychologischer Möglichkeiten dienten sie angesichts des nahenden Todes der Überlebenshilfe für sich selbst und ihre Zuhörer gleichermaßen.

Vergessen Sie nicht bei all der Faszination durch ein reiches, beeindruckendes kulturelles Leben in Theresienstadt: Von den etwa 141.000 Häftlingen erlebten 23.000 das Ende des Krieges. Aber erlebten sie eine Befreiung? Die anderen hatten die gegenmenschlichen Bedingungen, sie hatten Krankheit, Seuchen, Hunger und Gewalt nicht überlebt.

Theresienstadt, jener unfassbare Ort, über den zu reden auch ein ganzer Abend nicht ausreichte, wurde in der Rezeption und in der Erinnerungskultur bisweilen zur Legende. Im kulturellen öffentlichen Gedächtnis wird dieser Ort oftmals missverstanden als ein Ghetto, an den die Juden zwar zwangsweise deportiert wurden, an dem aber musiziert, komponiert, gemalt, gelehrt, gezeichnet und Lyrik verfasst wurde.

Die Geschichte Theresienstadts ist durch den Zynismus der Täter geprägt. Die Weltöffentlichkeit wurde planmäßig über den Zweck der Einrichtung getäuscht und von den Absichten genozidaler Politik abgelenkt. Und schließlich wurden die Opfer dazu missbraucht, bei dieser Täuschung mitzuwirken. Wenn wir den Klischees vom faszinierenden Kultur-Ghetto, vom Vorzugslager für 40.000 deutsche Juden Glauben schenkten, redeten wir der systematischen, gewollten Lüge, des inszenierten Betrugs, der Täuschung das Wort. Und vergessen wir nicht all die Menschen, die kein Instrument spielten, die nicht sangen, nicht schrieben und auch nicht lehrten. Die weder prominent noch privilegiert noch irgendwie begünstigt waren. Erinnert sei an die Menschen, die in Theresienstadt leise, unbekannt um ihr Leben gebracht wurden.

Das Streichtrio von Gideon Klein und auch die Reflektionen von Ruth Klüger, die nicht nur Theresienstadt überlebte, zeugen von einer Welt der Gegenmenschlichkeit, die jenseits unserer Vorstellungen ist und die aus meiner Sicht in seiner Komplexität angemessen darzustellen oder gar zu begreifen nicht möglich ist. Musik und Kultur von Menschen aus Theresienstadt sind vor diesem Hintergrund Kostbarkeiten, die unserer Wahrnehmung – so hoffe ich – etwas sehr Wertvolles zugrunde legen: nämlich Hochachtung.

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