Von Detmold in das Warschauer Ghetto – Zum 80. Jahrestag der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Detmold nach Warschau am 31. März 1942

Gudrun Mitschke-Buchholz

Eduard Kauders und Moritz Herzberg waren jüdische Kaufleute in Detmold und hatten sich als Vorstandsmitglieder für die Synagogengemeinde engagiert. Beide hatten den Novemberpogrom 1938 miterleben müssen und waren nach Buchenwald verschleppt worden, und sie hatten sich verzweifelt bemüht, mit ihren Familien dieses Land, das sie als ihr Zuhause nur missverstanden hatten, zu verlassen. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland hatte zunächst noch versucht, möglichst viele Juden bei ihren Emigrationen zu unterstützen. Das Auswanderungsverbot für Juden vom 23. Oktober 1941 hatte alle Hoffnungen auf Flucht zunichte gemacht. Ab September 1939 unterstand die Reichsvereinigung der Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) bzw. der Gestapo und sah sich gezwungen, deren Anordnungen umzusetzen. Kauders und Herzberg waren Leiter des Detmolder Büros der Reichsvereinigung ("Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Büro Detmold für das Land Lippe") und mussten im Dezember 1941 in der grauenhaften Abhängigkeit zum RSHA die Deportation ihrer Nachbarn, Freunde und Bekannten nach Riga mitorganisieren.

Wenige Monate später fand die zweite Deportation lippischer Juden statt. Das Ziel dieses Transports war Warschau. Am 20. März 1942 hatte die Gestapo den Abtransport von eintausend Juden der Stapoleitstelle Hannover angeordnet, zu dem 325 Menschen aus dem Bezirk der Bielefelder Gestapo gehörten. Für diese „Abschiebung“ waren nur noch 25 kg Gepäck erlaubt, nach Riga war es noch doppelt so viel gewesen. Die Detmolder Jüdinnen und Juden wurden am 30. März 1942 in Begleitung eines Polizisten mit dem Zug nach Bielefeld gebracht und mussten ihre letzte Nacht vor dem Abtransport im Sammellager „Kyffhäuser“, einer ehemaligen Gaststätte, zubringen. Am Nachmittag des folgenden Tages, am 31. März 1942, wurden die Menschen vom Bielefelder Güterbahnhof und nun in Viehwaggons nach Warschau verschleppt.

Paula Paradies wurde im März 1942 nach Warschau deportiert. Vor ihr steht Ellen Meyer aus Bad Driburg. Frau Paradies war deren "Pensionsmutter" während ihrer Schulzeit an der Detmolder jüdischen Schule. Ellen Meyer wurde im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert. (Quelle: Stadtarchiv Detmold).

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Paula Paradies wurde im März 1942 nach Warschau deportiert. Vor ihr steht Ellen Meyer aus Bad Driburg. Frau Paradies war deren "Pensionsmutter" während ihrer Schulzeit an der Detmolder jüdischen Schule. Ellen Meyer wurde im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert. (Quelle: Stadtarchiv Detmold)
 
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Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Detmold für Jeanette Schiff (Großmutter von Hedwig Block und vermutlich deren älteren Schwester) Ida Block und Hedwig Block. An Hedwig Block, die nach Warschau deportiert wurde, wird hier erinnert. (Foto: Gudrun Mitschke-Buchholz)

Im Detmolder Gedenkbuch (www.gedenkbuch-detmold.de) finden sich die Schicksale von mehr als dreißig Menschen, die auf diesen Transport in das völlig überfüllte Ghetto in Warschau gezwungen wurden und damit in eine Welt von Hunger, Elend, Gewalt und Terror. Zu ihnen gehörte Max Alexander, der als Lehrer in der jüdischen Schule gearbeitet hatte, und dessen Frau Elly. Seine Kollegin Hedwig Block hatte als Englischlehrerin noch die Ausreisewilligen durch ihre Sprachkenntnisse bei ihren Behördenkorrespondenzen unterstützt. Auch sie wurde nach Warschau deportiert. Auf dem Detmolder jüdischen Friedhof erinnert ein Gedenkstein an sie, und eine Straße in Detmold wurde ihr zu Ehren benannt. Paula Paradies hatte ein renommiertes Hutgeschäft betrieben und zuletzt als sog. Pensionsmutter jüdischen Schülerinnen wie Margot Rothenberg ein Zuhause geboten. Auch Heinz Rosenbaum aus Detmold, dessen Vater Walter Rosenbaum bereits 1938 im Lindenhaus gestorben war, gehörte zu den Schülerinnen und Schülern der jüdischen Schule in der Gartenstraße. Zusammen mit seiner Mutter Frieda wurde der fast Dreizehnjährige nach Warschau deportiert. Auch seine Schwester Inge wurde vermutlich zusammen mit ihrem dreijährigen Sohn Dan in das Ghetto verschleppt. Else und Hans Marx wurden zusammen mit ihrer Schwester und Schwager Babette und Otto Katz in ein Zimmer im Ghetto eingewiesen. Man möchte hoffen, dass es ein Trost für sie war, wenigstens zusammen zu sein. Doch Hans Marx wurde bereits im April 1942 nach Treblinka transportiert, wo er vermutlich beim Aufbau des Vernichtungslagers mit arbeiten musste. Else Marx erkrankte an Typhus und wurde zusammen mit ihrer Schwester Babette vermutlich 1943 in das Ghetto in Lublin transportiert. Keiner von ihnen überlebte. Auch Otto Katz wurde nach dem Krieg für tot erklärt.

„Hat denn niemand von den Detmoldern geschrieben?“

So fragte Erna Hamlet im Juni 1943 auf einer nur fragmentarisch lesbaren, aber immerhin erhaltenen Postkarte, die sie als Zwangsarbeiterin der Fa. Walter Többens aus dem Arbeitslager Poniatowa an Irene Hesse in Detmold schrieb und dringlich nach Päckchen fragte. Auch Erna Hamlet war nach Warschau deportiert worden und schrieb nun, dass sie täglich eine halbe Stunde Fußmarsch zum Werk absolvieren musste. Brombeeren und Heidelbeeren brächten eine gute Ernte. Über das Ende von Erna Hamlet ist nichts bekannt. Sie gilt als verschollen. Auf jener Postkarte erwähnte sie ihre Mutter Helene, von der sie nichts gehört habe und fragte, ob sie wohl noch „in Th.“ sei. Tatsächlich überlebte Helene Hamlet Theresienstadt und kehrte für einige Zeit nach Detmold zurück. In Detmold hatte Erna Hamlet als Stenotypistin für die Lippische Landeregierung gearbeitet, bis Joseph, später Jürgen Stroop im März 1933 für ihre sofortige Entlassung sorgte. 
Stroops steile Karriere hatte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Detmold seinen Anfang genommen, als er zum Führer der Hilfspolizei des Landes Lippe ernannt worden war. Zahlreiche Beförderungen außerhalb Lippes brachten ihm den Rang des Generalmajors der Polizei ein. Von Heinrich Himmler wurde Stroop im April 1943 mit der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto beauftragt. Unter schwierigsten und unvorstellbaren Bedingungen, halbverhungert und ihr Sterben vor Augen, hielten Ghettobewohner diesen Aufstand vier Wochen lang -  bis es am 24. Mai 1943 durch Stroop hieß: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr.“ Das Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen, die nicht den vorigen „Auskämmaktionen“ zum Opfer gefallen waren, wurden noch vor Ort oder in Treblinka ermordet. In Stroops Bericht wird von 56065 Menschen gesprochen, die ihm in die Hände fielen.

Über das Ende der Detmolder Opfer wissen wir wenig. Berichte über den katastrophalen Alltag im Warschauer Ghetto und zahlreiche Fotos von verhungernden und geschundenen Menschen auf den Straßen lassen erahnen, unter welchen Bedingungen sie um ihr Leben gebracht wurden.

Drei Monate nach der Deportation nach Warschau verließ im Sommer 1942 der nächste Transport Detmold. Das Ziel war Theresienstadt. Und nun standen auch Eduard Kauders und Moritz Herzberg mit ihren Familien auf der Liste.

 

Detmold, im März 2022

 

 

 

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